Ein ungewöhnliches Musikdosen-Laufwerk ("DDR-Laufwerk")
Der Beitrag erschien erstmals in der Zeitschrift
„Das Mechanische
Musikinstrument”
(Journal der „Gesellschaft
für selbstspielende Musikinstrumente e.V.”)
27. Jahrg., Heft 80,
April 2001, S. 29-32. Die Wiedergabe erfolgt mit freundlicher
Genehmigung
der GSM e.V.
In den Heften 64 (Dezember 1995) und 65 (April 1996) dieses Journals stieß ich auf das so genannte DDR-Laufwerk. Der erste Artikel war von Herrn Herbert Gerbeth und der zweite von Herrn Johannes Hennig verfasst worden. Mein Interessengebiet sind kleine Zylinderlaufwerke für Spieluhren, und ein DDR-Exemplar fehlte noch in meiner Sammlung. Die Artikel hatten mich neugierig gemacht und ich suchte nach so einem Gerät. Erst im Frühjahr 2000 konnte ich anlässlich der GSM-Börse "Musica Mechanica" in Rüdesheim das erste Exemplar erwerben. Inzwischen sind weitere davon in meinem Besitz; auch ein defektes, das ich für diesen Beitrag vollständig zerlegt (geopfert), fotografiert und beschrieben habe.
Abbildung 1a: H. Herold (links) und H. Marxsen
(rechts)
Foto: Mechthild Marxsen
Herr Helmut Herold (siehe Abbildung 1a) in Klingenthal, der von Anfang bis Ende des Produktionszyklus technischer und kaufmännischer Leiter des Projektes "Spieluhren-Laufwerke" in der damaligen DDR war, hatte sich Ende November 2000 die Zeit genommen, mir etliche technische Details zu erklären und einige interessante Geschichten zu erzählen. Sein Vater, ein Akkordeonbauer, sorgte dafür, dass Helmut Herold als Kind schon recht früh Musikunterricht erhielt. Er erlernte den Beruf eines Industriekaufmanns mit späterem Abschluss zum diplomierten Betriebswirt. Der Bereich Technik war ihm auch nicht fremd.
Der damalige Präsident der DDR (Präsident von 1949 bis 1960), Wilhelm Pieck (der Name klingt sicherlich noch vielen im Ohr), ordnete 1956 an, Spieluhrenlaufwerke in Klingenthal (Sachsen) Spieluhrenlaufwerke zu produzieren. Er wollte, dass die DDR-Wirtschaft sich von den Importen aus der Schweiz unabhängig macht. Von 1961 bis zur Wende wurden diese außergewöhnlichen Laufwerke in Klingenthal hergestellt; über viele Jahre war die Produktion dem Werk "VEB Harmonie" und in den letzten 10 Jahren vor der Wende dem Werk "VEB Musikelektronik" angegliedert. Im Bereich Spieluhren waren 20 Personen in einem Werksgebäude mit der Planung und Vorfertigung, in einem anderen Gebäude 25 in der Endmontage und 5 Personen waren mit Heimarbeit beschäftigt. Die Endmontage wurde in einem Anbau des Wohnhauses von Herrn Herold vorgenommen und von der Ehefrau von Herrn Herold geleitet. Pro Jahr stellte man etwa 30.000 Stück dieser bemerkenswerten Geräte her; insgesamt also fast eine Million. Bis auf die Zahnräder und die Hemmung (Geschwindigkeitsregler), welche eine Firma aus Glashütte beisteuerte, wurde alles in Klingenthal hergestellt. Ein wichtiger Mitarbeiter war Herr Herbert Gerbeth, der für alle Melodievarianten die Musik arrangiert hat (Entwurf der Nockenscheiben und der Tonkämme). Etwa 40 verschiedene Walzen- und Tonkammvarianten wurden realisiert. Einige mit nur einem Musiktitel, manche mit zwei Stücken pro Walze. Darüber hinaus ist dem Verfasser eine Variante mit 2 Musikstücken und nur wenigen Anfangstakten eines dritten Titels bekannt geworden. Überwiegend wurden die Werke in Spieldosen mit Drehteller eingebaut. Auf dem Drehteller sind meist die typischen gedrechselten oder geschnitzten Figuren aus dem Erzgebirge zu finden (siehe Abbildung 1b).
Abbildung 1b: Spieldose aus DDR-Produktion
Foto: Mechthild Marxsen
An dem DDR-Laufwerk (siehe Abbildung 2) weicht fast alles ein wenig von den Geräten der allgemein bekannten Bauformen ab. Die DDR-Werke sind dadurch gekennzeichnet, dass
Abbildung 2: DDR-Laufwerk
Der Tonkamm
Die Zinken wurden in nur wenigen Grundformen. aus 0,7 mm
dickem weichem
Stahlblech gestanzt. Es folgte eine Härtung und danach ein
Ausschleifen
des Steges zwischen dem rechteckigen Teil der Zinken und dem Gewicht,
das
der gewünschten Tonhöhe entsprechend an der
Zinkenspitze belassen
wurde. Zwei Schrauben halten den Tonkammblock (siehe Abbildung 3)
zusammen;
dafür sind jeweils zwei Löcher in der rechteckigen
Grundplatte
einer Zinke vorgesehen. Zwischen den Zinken im Bereich der
Verschraubung
sind etwa 0,4 mm dünne Distanzplättchen aus
Messingblech als
Abstandhalter zwischengelegt. Mit Hilfe eines U-förmigen
Haltebügels
(siehe Abbildung 4) und zwei Schrauben auf beiden Seiten ist der
Tonkamm
auf einer abgeschrägten Ebene auf der Stahl-Grundplatte
befestigt.
Bis etwa 1968 wurde unterhalb der Grundplatte im Bereich des Kammes
eine
Stahlplatte (62 x 32 x 6 mm) angeschraubt (siehe Abbildung 5), die
störende
Eigenschwingungen verhindern sollte. Zwecks Klangverbesserung wurde die
Grundplatte 1968 umgestaltet, danach konnte die Stahlplatte weggelassen
werden. Es sind Tonkämme mit 22 bis 32 Zinken zu finden. Das
Gros
der Werke hatte je nach Umfang des Tonsatzes 27 bis 30 Zinken.
Abbildung 3: Der "Tonkamm"
Abbildung 4: Abschrägung mit U-förmigem
Haltebügel
für den Tonkamm
Abbildung 5: Die bis 1968 unterhalb der Grundplatte eingebaute
Stahlplatte
Der Programmträger ("Walze")
Der Programmträger (siehe Abbildungen 6) besteht aus
gestanzten
etwa 0,4 mm dicken Nockenscheiben aus Hartmessing mit einem Durchmesser
von etwa 23 mm inklusive Nocken. Zwischen den Nockenscheiben liegen
Distanzscheiben
aus einer plastikähnlichen Hartpappe. Die Welle, auf der die
Scheiben
aufgereiht sind, hat einen nicht runden Querschnitt. Auch das Loch in
der
Mitte einer Scheibe hat die Form des Querschnittes der Welle; es ist
somit
gewährleistet, dass die Scheiben formschlüssig zur
Achse immer
in exakter Stellung zueinander stehen. Am Ende der Welle sitzt ein
aufgepresster
Ring, der das Scheibenbündel zusammenhält. Das nicht
zentrische
zweite Loch in der Scheibe diente als Montagehilfe. Zu einigen Zinken
gibt
es doppelte Nockenscheiben ohne Distanzscheibe dazwischen; d.h., ein
Scheibenpaar
bedient eine Zinke. Eigentlich eine Notlösung, um die
erwünschte
Tonrepetition zu erhalten, denn die Nockenscheiben-Stanzmaschine konnte
nur in relativ großen Schritten einer festen Teilung Nocken
auf dem
Scheibenrand stehen lassen. Wurde dazwischen eine Tonrepetition
benötigt,
so hat man eine zweite Scheibe dazugelegt und diese um einige Grad
verdreht
montiert.
Abbildungen 6: Programmträger aus Nockenscheiben zusammengesetzt
Fehlende Dämpfung der Zinken
Ein Problem bei Spieluhrenlaufwerken ist die so genannte
Dämpfung
der Zinken. Betrachten wir ein übliches Laufwerk mit
bestifteter Walze,
so wird dort eine Zinke angezupft und sie schwingt je nach Masse eine
Weile;
bei tiefen Tönen sogar relativ lange. Nähert sich
erneut ein
Stift der noch schwingenden Zinke, dann wird man bei einer nicht
gedämpften
Zinke ein Klirren und Scheppern vernehmen, da die schwingende Zinke
gegen
den Folgestift schlägt. Man hat deshalb sowohl bei den teuren
hochwertigen
Laufwerken aus der Schweiz wie auch bei den ganz billigen aus Fernost
im
tiefen Tonbereich unter der Zinkenspitze ein
Dämpferfähnchen
aus Plastik angebracht (siehe Abbildung 7). Dieses sorgt
dafür, dass
das Schwingen der Zinke aufhört, wenn sich erneut ein Stift
der Zinke
nähert. Der Stift berührt dann nämlich
zuerst das Dämpferfähnchen
und stoppt die Schwingung. Als Problem erweist sich bei dieser
herkömmlichen
Dämpfung jedoch der Verlust von
Dämpferfähnchen durch Abnutzung
oder durch Ablösen.
Abbildung 7: Zinkendämpfung beim Laufwerk aus der
Schweiz oder
aus Fernost
Bei den DDR-Laufwerken fehlen solche
Dämpferfähnchen. Soll
ein Ton in kurzen Zeitabständen hintereinander mehrmals
erklingen,
so kann man davon ausgehen, dass die Zinke
noch schwingt,
wenn die nächste Nocke sich nähert. Bei genauerer
Betrachtung
stellt
man fest, dass in manchen Fällen eine kritische Folge-Nocke
schräg
hinterschliffen ist (siehe Abbildung 8), dadurch bleibt der Zinke ein
paar
zehntel-Sekunden mehr Zeit zum Ausschwingen. Reichte diese Korrektur
nicht
aus, so hat man unter Umständen 2 oder im Extremfall sogar 3
Zinken
und Nocken mit dem gleichen Ton belegt und sie wechselweise angezupft.
Abbildung 8: Kritische Folge-Nocke schräg
angeschliffen
Antriebsmodul und Abschaltmechanismus
Die Aufzugsfeder wird linksherum aufgezogen und befindet sich
in einer
Trommel (siehe Abbildung 9), die sich beim Abspielen dreht und
über
einen Zahnkranz die Walze antreibt. Ein Abtaster drückt von
außen
gegen den Mantel der Federtrommel. Rastet er in eine Vertiefung auf dem
Trommelmantel ein, so wird er ein kleines Stück mitgenommen,
schiebt
dabei einen Hebel in den Geschwindigkeitsregler hinein und blockiert
ihn
damit (siehe Abbildung 10). Auf eine Trommelumdrehung (etwa 90 sec)
kommen
3 Umdrehungen der Walze (a 30 sec). Mit anderen Worten: Nach dem
Drücken
des Starthebels wird das Federgehäuse bis zum Stopp eine
Umdrehung
machen, wegen des Zahnradverhältnisses 3:1 dreht sich
derweilen die
Walze 3 mal. Man hört somit das programmierte
Musikstück dreimal
hintereinander (sehr angenehm). Sonst ist es üblich, dass ein
Laufwerk
schon nach einer Walzenumdrehung gestoppt wird (nach meinem Empfinden
zu
früh) oder so lange läuft, bis die Kraft der
Aufzugsfeder verbraucht
ist (nach meinem Empfinden zu lange).
Abbildung 9: Antriebsmodul
Die Hemmung (Geschwindigkeitsregler)
Die Hemmung unterscheidet sich kaum von Geschwindigkeitsreglern anderer Hersteller. Wie schon erwähnt, wurde diese Komponente und die Zahnräder, die sonst noch eingesetzt wurden, von einem Zulieferer aus Glashütte bezogen. Dieser Zulieferer stellte in erster Linie Zubehör für Modelleisenbahnen her.
Abbildung 10: Hebel zum Blockieren des Geschwindigkeitsreglers
Foto: Robbie Rhodes
Geschichten
Die ersten Spieldosen, die mit dem DDR-Laufwerk ausgestattet wurden, spielten - in Anlehnung an die damals populäre Fernsehserie "Sandmann" - die "Sandmann"-Erkennungsmelodie. Man verkaufte die Dosen für 56,- DDR-Mark. Der Stundenlohn eines Facharbeiters betrug zu der Zeit etwa 1,50 bis 2,- DDR-Mark.
1970, anlässlich des 100. Geburtstages von Lenin,
wurden 500 Spieldosen
mit dem Musiktitel "Die Internationale"
für das ZK angefertigt.
Da die Originalmelodie für eine Walzenumdrehung zu lang war,
wurde
sie so gekürzt, dass es kaum auffiel (siehe Abbildung 11).
Vier Monate
nach dem Jubiläum kam ein Stasi-Mitarbeiter aus Berlin und
verhörte
mehrere Stunden lang die Herren Herold und Gerbeth (Lag Sabotage vor?
Sollte
mit der gekürzten Fassung etwas mitgeteilt werden? Wollte man
gar
"Die Internationale" verunglimpfen?). Zu guter Letzt akzeptierte der
Stasi-Mitarbeiter
den rein technischen Grund der Verkürzung und es gab nur eine
Ermahnung.
Herr Gerbeth war so freundlich und hat das Notenblatt, so wie er es
für
die Spieldose arrangiert hat, zur Verfügung gestellt.
Abbildung 11: "Die Internationale", für
Spieldose arrangiert
von H. Gerbeth
Abbildung: Archiv Herbert Gerbeth
Ein anderer Vorfall ereignete sich 1972, als zwei Stasi-Vertreter auftauchten und wiederum die vorgenannten Herren verhörten; diesmal aber einen ganzen Tag lang. Man hatte eine Spieldose mit dem Volkslied "Bald gras ich am Neckar, bald gras ich am Rhein....." herausgebracht. Ein Skandal, Landschaften im Westen, in der "BRD", zu verherrlichen (sollte gar ein Aufruf zur Republikflucht dahinterstecken?). Da Herr Gerbeth nachweisen konnte, dass dieses traditionelle Volkslied auch in der DDR gedruckt wurde, blieb den Herren Herold und Gerbeth ein "Aufenthalt in Bautzen" erspart. Einige Monate später sickerte bis Klingenthal durch, wer der Auslöser dieser Aktion gewesen war: Eine sehr hohe Funktionärin aus dem Honecker Dunstkreis war mit dieser Spieluhr beschenkt worden. Der Liedtext behagte ihr gar nicht und sie wollte sich mit dieser Aktion wohl profilieren. Die Produktion musste gestoppt und alle bereits ausgelieferten Spieldosen mussten aus den Geschäften, wo sie zum Verkauf standen, zurückgeholt werden. Eine Verschrottung der Laufwerke wurde angeordnet aber dann doch nicht durchgeführt. Kurze Zeit später wurden die Spieldosen nämlich in den Intershop-Läden gegen West-Mark verkauft. Dort konnten sie keinen ideologischen Schaden mehr anrichten und brachten noch die begehrte DM ins Land.
Beide Herren waren sehr aufgeschlossen und ich überließ ihnen Thorens-Spieldosen-Laufwerke (28 Zinken, verschiebbare Walze, 2 Musiktitel). Sie stammen aus der Schweiz
und dürften etwa in den 70er-Jahren produziert worden
sein. Zu
Weihnachten 2000 erreichte mich eine Postkarte von Herrn Gerbeth, aus
der
einiges über die Klangqualität des DDR-Laufwerkes zu
entnehmen
ist: "[...] Herzlichen Dank für das Spielwerk. Es klingt sehr
schön
und sauber. Der Klang ist sehr fein im Gegensatz zum Klingenthaler
Spielwerk
[DDR-Laufwerk]. Dort ist der Klang kräftig und reich an
Obertönen
[...]."
Schlussbetrachtung
Die aufwendige Technik und der vermutlich sehr hohe Arbeitsaufwand führte nach der Wende zum "Aus" der Produktion. Die Schwachstellen an den Laufwerken der anderen Hersteller (Fernost und auch Schweiz), die nach dem zweiten Weltkrieg produziert wurden, sind die Kunststoffkomponenten, die nach einigen Jahrzehnten brüchig werden und wegbrechen (Dämpferfähnchen, Zahnräder, Fliehkraftgeschwindigkeitsregler usw.). Abgesehen von den unkritischen Distanzscheiben zwischen den Nockenscheiben ist in den DDR-Laufwerken kein Kunststoff oder plastikähnliches Material eingesetzt worden. Es ist anzunehmen, dass so ein Laufwerk auch noch in einhundert Jahren funktioniert.
Einige Jahre vor der Wende ist man in die Entwicklung eines Laufwerkes eingestiegen, das die Technik der schweizerischen Laufwerke ähnelte (Walze aus einem Messingrohr mit eingesetzten Stiften, Tonkamm aus einer Stahlplatte gesägt). Bis zur Wende erreichte man aber kein zufrieden stellendes Ergebnis.
Den Herren Herold und Gerbeth sei an dieser Stelle für Ihren Anteil am Zustandekommen dieses Beitrages nochmals herzlich gedankt. In ihrem Besitz sind nur noch einige wenige DDR-Laufwerke und das sind verständlicherweise unverkäufliche Erinnerungsstücke.
Abbildungen, soweit nicht anders angegeben: Hauke Marxsen